Wissen in der Stadt. Mainz und Erfurt im Spätmittelalter und der Frühen Neuzeit

Wissen in der Stadt. Mainz und Erfurt im Spätmittelalter und der Frühen Neuzeit

Organisatoren
Interdisziplinärer Arbeitskreis Mediävistik an der Universität Mainz und dem HKFZ Mainz-Trier in Kooperation mit der Akademie des Bistums Mainz (Erbacher Hof)
Ort
Mainz
Land
Deutschland
Vom - Bis
12.10.2006 - 14.10.2006
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Von
Christine Kleinjung, Abteilung II, Mittelalter, Johannes Gutenberg-Universität Mainz

Zu Beginn spannte Mechthild DREYER (Mainz) mit deutlichem Bezug auf aktuelle wissenschaftspolitische Überlegungen die Folie auf, vor der die verschiedenen Beiträge der Tagung konzipiert waren. Demnach war die vormoderne Stadtkultur eine Wissenskultur. Insofern liegt es nahe, an konkreten Beispielen zu überprüfen, welchen Gewinn eine vormoderne Stadtgesellschaft erzielen konnte, wenn sie über eine Universität verfügte. Außerdem sollte ihm Rahmen der Tagung die Frage verfolgt werden, welche Wissensformen es in den Städten gab, welchen Ort sie jeweils hatten und wie sie auf die Stadtgesellschaft gewirkt haben. Diesen Zusammenhang in verschiedenen Perspektiven zu fokussieren, sollte die Aufgabe der einzelnen Vorträge sein.

Jörg ROGGE (Mainz) erläuterte anschließend die Entstehung der Tagungsidee, die Arbeitsergebnisse einer Kooperation zwischen den Universitäten in Mainz und Erfurt, präsentierte. Der Leitfrage nach der Wirkung von Wissen in Städten entstand in einer interdisziplinären Arbeitsgruppe aus Wissenschaftlern und wurde jeweils am Beispiel von Mainz und Erfurt überprüft. Unterstützt wurde die Arbeitsgruppe in Mainz durch den Interdisziplinären Arbeitskreis Mediävistik und das Historisch-Kulturwissenschaftlichen Forschungszentrum Mainz-Trier. Ein Ausgangspunkt für die gemeinsame Arbeit an dem Projekt war das gemeinsame Interesse an dem Zusammenhang von Raum und Wissen. Dazu wurde vor allem mit einem relationalen Raumbegriff gearbeitet. D.h. Räume sind nicht nur vorgegebene physikalische Tatsachen, sondern entstehen auch durch Handeln und Erinnern von Akteuren (Spacing und Syntheseleistung nach Martina Löw). Durch Handeln und Kommunikation werden Räume aufgespannt. Um kommunizieren zu können, ist jedoch auch Wissen eine Voraussetzung, Wissen, das in sehr unterschiedlicher Form in den Städten vorhanden war. Rogge unterschied zwischen Alltagswissen/vortheoretischem Wissen (wie Redewendungen, Sprichwörter, handlungsleitendes Wissen) und theoretischem Wissen und wies auf die raumbildende Wirkung von Wissen hin. Welche Folgen das konkret in Mainz und Erfurt hatte, sollten die einzelnen Referate zeigen.

Rainer C. SCHWINGES (Bern) fragte nach der Wirkung von universitärem Wissen auf den Stadtraum im römisch-deutschen Reich. Er führte dazu eine prosoprografische sozialgeschichtliche Studie von Studenten an. Nach unserem heutigen Verständnis war die Mehrzahl der Studenten im Kinder- bzw. Jugendalter und verblieb im Durchschnitt zwei Jahre auf der Hochschule. In den meisten Fällen machten die Studenten keine weiten Reisen und wechselten selten die Hochschule. Gründe für Regionalisierung waren die klientelartigen Bindungen und die sozialen Netzwerke, die sich vor allem aus der räumlichen Herkunft ergaben Die überwiegende Mehrheit der Studenten an Universitäten im Reich studierte an der Artistenfakultät, 60-80 % von ihnen erwarben nie einen Abschluss. Das Motiv für ein Studium ist laut Schwinges daher nicht in erster Linie in der Hoffnung auf Verbesserung der Chancen auf dem Arbeitsmarkt (bei der Besetzung von Ämtern wurden häufig auch Nicht-Akademiker berücksichtigt) zu sehen, sondern im Vordergrund stand in der Tat der Erwerb von Bildung. Dies verdeutlichte Schwinges am Beispiel von Köln, wo zwei Drittel der Stadtkölner Studenten Examina erwarben. Ein Studium war als kulturelles Kapital Teil der Familienstrategie, aber die meisten Absolventen kehrten in die Familienunternehmen zurück. Also erschloss ihnen das Studium keine neuen Tätigkeitsfelder. Die führenden Familien orientieren sich bei der Wahl der Studiengänge für ihre Söhne säkular, nur die alte patrizische Oberschicht versuchte, Absolventen auf kirchliche Pfründen zu bringen.

Wolfgang DOBRAS (Mainz) und Rudolf BENL (Erfurt) boten eine Bestandsaufnahme der politischen, gesellschaftlichen und kirchlichen Rahmenbedingungen in Mainz und Erfurt um 1500. Wolfgang Dobras verdeutlichte anhand der verfassungspolitischen Änderungen den Wandel von Mainz von einer Freien Stadt zu einer Residenz- und Universitätsstadt, in der die Stadtherrschaft des Erzbischofs gefestigt war, was auch an der landesherrlichen Gründung der Universität zu sehen ist. Die zeitgenössischen Bewertungen der Stadt um 1500 fallen aus geistlicher und weltlicher Sicht ganz unterschiedlich aus. Während geistliche Beobachter Mainz rühmen, beklagen weltliche Kritiker den Verfall der bürgerlichen Freiheiten.

Besonderes Augenmerk legte Dobras auf die Mainzer Stiftsfehde und die Zerstörung der Stadt durch die Truppen Adolfs von Nassau. Die führenden Familien mussten die Stadt ins Exil verlassen, ihr Vermögen wurde eingezogen, die Folge der Stiftsfehde war die Mediatisierung der Stadt und das Ende der kommunalen Freiheiten 1462. Die neue Verfassung erlaubte keinen Stadtrat und keine politischen Aktivitäten der Zünfte, die gesellschaftlichen Folgen schilderte Dobras anschaulich. Die Situation hatte auch Auswirkungen auf die Universität, die vom geistlichen Umfeld dominiert war.

Rudolf BENL (Erfurt) skizzierte die Lage in Erfurt, wo die Universität im Gegensatz zu Mainz eine Gründung des Rates war und auf einer bürgerlichen Bildungstradition aufbauen konnte. Auch wenn die bevölkerungsreiche Stadt Erfurt stark von dem geistlichen Element geprägt war (um 1500 ca. 19.000 Einwohner, davon allein 548 Klosterinsassen, ohne Weltklerus), so hatte sich doch eine eigenständige bürgerliche Kultur ausgeprägt. Der Bürgereid etwa verpflichtete allein zum Gehorsam gegenüber dem Rat, der Mainzer Erzbischof als Stadtherr wird nicht erwähnt. Einen tiefen Einschnitt in der Stadt- und Universitätsgeschichte stellte das so genannte „Tolle Jahr“ 1509/10 dar, 1511 hatte sich die Zahl der Studenten von 500 (um 1490) auf 200 verringert.

Nachdem diese Bestandsaufnahmen die Ausgangslage in den beiden Städten verdeutlichten, widmete sich Jörg ROGGE (Mainz) dem Zusammenwirken von Wissen und politischen Räumen in Mainz und Erfurt im späten Mittelalter. Die Konstitution politischer Räume beruhte auf der Wechselwirkung von Struktur und Handeln und verlief jenseits der topographischen Binnengliederung des Stadtraums. Räume entstehen durch die Platzierung von Menschen und sozialen Gütern, entscheidend sind dabei zwei Schritte: Spacing und Syntheseleistung, also die Anordnung (= Spacing) und Wahrnehmung und Erinnerung (= Syntheseleistung). Für die Syntheseleistung sind verschiedene Wissensformen erforderlich. Alltagswissen nennt Rogge dabei jenes vortheoretische Wissen, das als Handlungsgrundlage dient. Er unterscheidet zwei Formen von politischen Räumen: die Affirmationsräume und die Konfrontationsräume, in denen die bestehende Ordnung einerseits bestätigt und andererseits angegriffen und kritisiert wird. Das politische Zentrum in Mainz und Erfurt stellt das Rathaus dar. In der Erfurter Ratswahlordnung von 1452 erscheinen die Bürger als Teil des Affirmationsraums „Rathaus“. Trinkstuben der Zünfte oder Geschlechter werden in diesem Konzept zu „Nebenzentren der Macht“. Auch diese Räume sind politisch umkämpft und werden von den Akteuren verändert und gedeutet. Politische Konfrontationsräume sind instabile Räume, die an die Präsenz von Körpern geknüpft sind, wie etwa Versammlungen vor dem Rathaus oder Gemeindeausschüsse, die zur Kontrolle des Rates gebildet wurden. Diese Ausschüsse konstituierten politische Räume zwischen Rat, Münze und Trinkstube, konnten sich aber nicht verfestigen, da die Tendenz bestand, die Ausschüsse in den Rat zu ziehen, also die Konfrontationsräume quasi zu neutralisieren. Politische Macht basiert daher auf erfolgreicher Kommunikation, welche die Deutungshoheit über den Raum der Stadt ermöglicht.

Die politische Kultur im Spiegel von Chroniken am Beispiel von Erfurt und Hildesheim untersuchte Katharina NEUGEBAUER (Mainz). Über die Politik des Rates von Erfurt im Zeitraum 1375 bis 1467 berichtet der Ratsherr Hartung Cammermeister, über die politischen Ereignisse in Hildesheim geben die tagebuchartigen Aufzeichnungen des Hildesheimer Bürgermeisters und Ratsmannes Henning Brandis aus den Jahren 1471 bis 1528 Auskunft. Politische Kultur definiert Neugebauer nach Karl Rohe als Rahmen, in dem sich das politische Leben handelnder, denkender und fühlender politischer Akteure abspielt. Sie unterscheidet im Anschluss an Rohe zwischen einer politischen Deutungskultur oder Ideenkultur und einer politischen Alltagskultur oder Ausdruckskultur. Letztere greift auf eine Art vortheoretischen Wissenspool zurück, bei dem es sich um handlungsleitendes Wissen handelt, das von seinen Trägern in den meisten Fällen nicht mehr reflektiert wird. Cammermeister berichtet auffallend oft von städtischen Baumaßnahmen, die er im knappen annalistischen Stil vermerkt, er gibt keine persönlichen Kommentare ab. So vermittelt er indirekt die Fähigkeit des Rates, seinen Aufgaben wie Schutz und Sicherheit nachzukommen. Er verfügte zwar über das Wissen, wie der Rat handeln sollte, reflektiert es aber nicht. Brandis schrieb keine Chronik im eigentlichen Sinne, sondern verfasste im Tagesrhythmus Aufzeichnungen über familiäre, städtische und regionale Ereignisse. Er verwendet bei der Beschreibung politischer Ereignisse wie Bürgermeisterwechseln stets die Formel „zur gewohnten Zeit“ und nennt die Namen des alten und des neuen Bürgermeisters. Details über den Ablauf erwähnt er nicht. Diese Sprachwendung verdeutlicht das kollektive Element von Handlungswissen des Schreibers, da er bedenkenlos beim Leser das gleiche Wissen voraussetzt. Beide Autoren kommunizierten Ausdrucksformen der politischen Alltagskultur.

Annette PELIZAEUS (Mainz) fragte nach dem Wissen über die eigene Geschichte in Klöstern in Thüringen und Rheinhessen. Die Quellengrundlage bildeten einerseits die Historiografie des 15. und 16. Jahrhunderts und andererseits baugeschichtliche Untersuchungen, die Pelizaeus in den Erfurter Kirchen vorgenommen hat. In ihrem Vortrag kontrastierte sie die chronikalischen Gründungslegenden mit den baugeschichtlichen Fakten, anhand der Beispiele des Eisenacher Dominikanerklosters, der Erfurter Predigerkirche und des Klosters Ruppertsberg bei Bingen. Sie kommt zu dem Schluss, dass sich in den chronikalischen Quellen keine Nachrichten über den Beginn und den Verlauf der Bauarbeiten finden und dieses Wissen den Autoren nicht als überlieferungswürdig galt. Es ist zu vermuten, dass das Wissen über den Bau lange Zeit mündlich weitergegeben wurde. Erst in der Neuzeit liegen ausführlichere Quellen, wie etwa Berichte und Rechnungen vor.

Den Fokus auf ein Ereignis der Erfurter Stadt- und Universitätsgeschichte richtete Frank STEWING (Zeitz/Erfurt), der die Erstürmung und Ausplünderung des Collegium Maius 1509 untersuchte. Die Konfliktsituation 1509/10 beleuchtete Stewing detailliert indem er zunächst die Quellen vorstellte, im Anschluss die Ereignisse rekonstruierte und die Hintergründe aufzeigte. Über die Erstürmung des Collegiums informieren universitäre und städtische Quellen, der Auslöser waren Streitigkeiten zwischen Studenten und städtischen Kriegsknechten, Stewing gelingt es auf der Basis neuer Quellenfunde die Ereignisse detailliert zu rekonstruieren und nachzuweisen, dass die Bibliothek des Kollegs nicht vollkommen zerstört, sondern von einer leider nicht zu identifizierende Gruppe schlunkonen verteidigt wurde. Die Schadensbilanz war dennoch enorm, denn das zerstörte Collegium Maius diente als Wohnort, Zentrum der Verwaltung, Bibliothek, Aufbewahrungsort der Insignien und des Archivs. Das Verhältnis von Studentenschaft zu Stadtbevölkerung war schon länger angespannt, Streitigkeiten an der Tagesordnung. Doch der Sturm auf das Große Kolleg unterscheidet sich von den alltäglichen Zänkereien, er war geplant, von langer Hand vorbereitet und bewusst provoziert. Die Universität Erfurt brauchte lange Zeit, um sich von diesem schweren Einschnitt zu erholen.

Mit der Zeit nach der Konsolidierung beschäftigte sich Ulman WEIß (Erfurt) in seinem Vortrag über die Erfurter evangelische Theologie im städtischen Wissensraum (1566-1632). 1521 hielt die Reformation in Erfurt Einzug. Die Stadt sagte sich von dem Erzbischof los, da die Einheit der Stadt höher gewertet wurde als die Einheit des Glaubens. Es wurde ein Vertrag zwischen Stadt und Erzbischof geschlossen, dessen Bestimmungen im Augsburger Religionsfrieden von 1555 wiederholt wurden. Der Lehrstuhl für evangelische Theologie wurde in die philosophische Fakultät eingegliedert und von Bürgerfamilien finanziert, es handelte sich um eine Stiftungsprofessur. Damit verbunden war die Institutionalisierung der evangelischen Theologie Augsburger Konfession in Erfurt. Die Professur war mit einer Predigerstelle in der Stadt verbunden. Der erste Professor war ein Schüler Martin Luthers und Pfarrer der Augustinerkirche. Ab ca. 1600 unterstand der Inhaber der Professur als Beamter dem Rat. Die Gemeinsamkeiten der Inhaber lagen in ihrer bürgerlichen Herkunft, sie waren von klein auf evangelisch erzogen, geprägt von Luther und Melanchthon. Bei keinem ist zu erkennen, dass ihr Bildungsgang auf die Professur zulief, eher handelte es sich um Pfarrkarrieren, viele Amtsinhaber besaßen eine Pfarrstelle oder waren als Schullehrer tätig gewesen.

Gerd SCHWERHOFF (Dresden) behandelte das Handlungswissen in der Stadt aus der Perspektive ihrer Bewohner. Schwerhoff grenzte wissenschaftliches Wissen von lebensweltlichem Wissen ab. Das lebensweltliche Wissen lässt sich in situatives Handlungswissen und Orientierungs- und Legitimationswissen unterteilen. Alltägliches Wissen besitzt dabei auch eine Systematik, eine Vorstrukturierung ist vorhanden. Schwerhoff unterscheidet zwischen Ort und Raum nach wissens- und raumsoziologischen Ansätzen, wie sie im „spatial turn“ in der Geschichtswissenschaft rezipiert worden sind. Wie Bewohner die Orte und Räume einer Stadt wahrnahmen, deuteten und konstituierten, schildert er am Beispiel des Kölner Ratsherren Hermann von Weinsberg (1518-1597), der mit seinem „Gedenkbuch“ ein Selbstzeugnis hinterlassen hat, in dem die Orte: Wohnhaus, Kirche und Rathaus zentrale Bedeutung haben. Für Hermann war sein Wohnhaus der Ort dauerhafter Traditionsbildung, das Zentrum seines Orientierungs- und Legitimationswissens (Abbildung als Stifter mit Modell des Hauses in der Hand). Seine Pfarrkirche St. Jakob lag in unmittelbarer räumlicher Nähe zu seinem Wohnhaus und die Verbundenheit der Familie Weinsberg mit der Kirche zeigt sich in der Wahl der Grablege, in den Fensterstiftungen und der Abbildung des Stifterpaares Weinsberg auf einem Flügelaltar. Hermann war mehrmals Ratsherr und das Rathaus ist der Ort, an dem er seine politische Aufgabe wahrnahm. Das Rathaus als Ort arkaner Herrschaftspolitik und festgelegter Sitzordnungen, die Hermanns Selbstverständnis, seinen sozialen Stand widerspiegelten waren der Ort, an dem Hermann soziale Netzwerke knüpfte. Die symbolische Ebene der Kommunikation, so Schwerhoff, sollte nicht nur als „Verschleierung“ betrachtet werden, Politik ist auf symbolische Kommunikation angewiesen. Dies gilt sowohl für Politische als auch pragmatische Netzwerke (Familie-Verwandtschaft-Freundschaft). Faktoren der Integration waren Rituale des Alltags, die die verschiedenen Orte verbanden, wie gemeinschaftliches Essen und Trinken. Wohnung, Kirche und Rathaus waren Räume der sozialen Repräsentation, die durch Multifunktionalität gekennzeichnet waren.

Peter NIEDERMÜLLER (Mainz) und Christoph HUST (Mainz) beschäftigten sich mit den Grundzügen musikalischer Theoretikerüberlieferung in Mainz und Erfurt und betrachteten die Überlieferung in Klöstern und Universitäten der beiden Städte. Peter NIEDERMÜLLER begann mit seinen Überlegungen zu Erfurt und dem universitären Raum. Nur wenige Quellen informieren über die Musikgeschichte Erfurts im 13. und 14. Jahrhundert, es handelt sich zumeist um Zufallsfunde. Das Collegium Amplonianum besaß eine umfangreiche Überlieferung an musiktheoretischen Texten, die einem europaweit verbreiteten Repertoire entstammten. Aus dem Katalog ist gut zu rekonstruieren, welche Texte verloren gegangen sind, welche später hinzukamen und welche bis heute erhalten sind.

Die Handschriften aus Amplonius’ Katalog waren für den Einsatz im Unterricht gedacht. Im 11. Jahrhundert für den Singunterricht im Kloster (also für Kinder). Um 1400 wurde eine Synopse von zwei Handschriften erstellt, die überschneidende Inhalte hatten, aber nicht voneinander abgeschrieben waren. Diese älteren Handschriften überliefern musiktheoretische Texte von Autoritäten. Durch die Abschrift und Zusammenstellung um 1400 kam es zu einem räumlichen und zeitlichen Funktionswechsel dieser Texte aus dem 11. Jahrhundert, die nun für die Anwendung im akademischen Unterricht, nicht mehr nur für didaktische Zwecke, gedacht waren.

Christoph HUST beschäftigte sich mit Musiktheorie im Kloster am Beispiel einer Mainzer Handschrift (Hs. II 375, Stadtbibliothek Mainz). Die Handschrift enthält mehrere Texte aus dem 11. und aus dem 14./15. Jahrhundert. Bei dem älteren Texten handelt es sich um eine Abschrift des Micrologus Guidos von Arezzo und einer Schrift des Johannes Affligemensis. Guido von Arezzo war die musiktheoretische Autorität im Mittelalter. In der Kompilation wird sichtbar, dass Guidos Micrologus in der Musiktheorie der folgenden Jahrhunderte sehr präsent ist. Bei der Mainzer Handschrift handelt es sich um eine neue Bearbeitung von Guido von Arezzo, die Sätze aus den einzelnen Kapiteln wurden von dem Kompilator zu einem neuen Text zusammengestellt. So wurde Guido nicht nur rezipiert, sondern auch aktualisiert. Der Kompilator hat in die Handschrift eingegriffen, die Aussagen neu geordnet und ihnen einen neuen Sinn gegeben. Die Musiktheorie wurde im Kloster nutzbar gemacht für den praktischen Chorgesang.

Uta STÖRMER-CAYSA (Mainz) präsentierte Ergebnisse ihrer Forschungen über die Schriften Meister Eckharts und ihre Überlieferung in den Kartausen von Mainz und Erfurt. Die Überlieferung ist durch den Inquisitionsprozess in den Jahren 1328/29 gegen den Autor gestört. Seine lateinischen Schriften waren nie von dem Häresievorwurf betroffen, verurteilt wurden jedoch 17 Sätze des deutschen Werks. In der gesicherten Überlieferung besteht ein quantitatives Missverhältnis: es haben sich etwa 300 Handschriften erhalten, die das deutsche Werk bezeugen (darunter Textzeugen, die nur wenige Sätze überliefern) und nur ca. 114 Handschriften des lateinischen Werkes. Die Biblioteca Amploniana in Erfurt bildet einen regionalen Schwerpunkt in der Überlieferung des lateinischen Eckharts. Aus den Kartausen von Mainz und Erfurt existieren Bibliothekskataloge. Den Erfurter Katalog verfasste Jakob Vollradi (als Einführung in die Literaturgeschichte), Meister Eckhart wird namentlich nicht erwähnt, auf seine mystische Lehre der sinderesis (Einheit mit Gott) wird aber hingewiesen. Vollradi gibt so Hinweise für interessierte Leser, die Meister Eckhart-Schriften anhand seiner Leitlehre identifizieren können. In dem Erfurter Katalog ist die Laienbibliothek nicht verzeichnet, Volradis Literaturempfehlungen betreffen die Profeßmönche. Die Erfurter Kartause ist eine späte Gründung, in der viel Eckhart gesammelt wurde, es stellt sich daher für zukünftige Forschungen die Frage, auf welchen Wegen die Handschriften nach Erfurt kamen. Der Ketzerprozess gegen Eckhart fiel in die Gründungsphase der Mainzer Kartause. Inwiefern schlug sich der Häresievorwurf auf den Ankauf von Handschriften nieder? Störmer-Caysa konnte nachweisen, dass die deutschen Handschriften der Werke Eckharts aus Basel stammten und über den Abt Johannes zum Eselsweck vermittelt wurden, der zuvor in Basel die Kartause geleitet hatte. In Mainz war Meister Eckhardt in der Laienbibliothek vorhanden, während er in Erfurt nur für Profeßmönche zugänglich war. Daraus lässt sich schließen, dass die Mainzer einen unbefangeneren Umgang mit Eckhart pflegten.

Matthias VOLLET (Mainz) und Stefan SEIT stellten den Wissensraum "Stadt" bei Aristoteles, Marsilius von Padua und Girolamo Cardano vor. Sie präsentierten den Umgang mit Wissen (mit dem Bezugspunkt Stadt) von der Antike bis zum 16. Jahrhundert. Aristoteles entwirft in seiner Ethik und Politik die Polis als Gemeinwesen freier und gleicher Bürger, der Handlungsraum Stadt soll gutes Leben ermöglichen. Das Ziel der Bürger ist das Leben nach der Tugend. Handeln findet bei Aristoteles immer zusammen mit anderen Menschen statt. Marsilius von Padua nimmt in seinem „Defensor pacis“ auf Aristoteles’ Politik Bezug. Bezugspunkt ist aber nicht mehr das gute Leben, sondern jeder Bürger kann seine Funktion an einem bestimmten Platz erfüllen. Marsilius entwirft das Bild eines laizistischen Bürgerstaats, die Kirche wird als Friedensstörer bezeichnet und göttliches Walten spielt keine Rolle. Die Erfindung von Gesetzen spricht Marsilius den Weisen zu, aber bei Zustimmung oder Vorschlägen zur Änderung reicht die Vernunft der Masse, eine Basisrationalität, die zwar zur inventio nicht ausreicht, wohl aber zur Kritik befugt. Marsilius liefert einen am status quo orientierten Entwurf, der pragmatisch mit den unterschiedlichen Vernunftprägungen umgeht.

Girolamo Cardano (1501-1576) bietet keine Theorie der Politik, sondern arbeitet mit historischen Beispielen. Er lehnt Theorie ab, verfasste aber einen theoretisch-politischen Text über das Wissen von der Stadt in der Stadt, über das Verhältnis von Politik, Wissen und Religion. Er spricht Religion eine direkte Nutzanwendung zu: Sie erleichtert das Leben (im Krieg und in der Stadt) und ermöglicht ein friedliches Zusammenleben. Aberglaube kann nur durch Wissenschaft und Bildung reduziert werden, aber das Volk soll über den Glauben hinaus kein Wissen erwerben. Das Wissen um zentrale Glaubensinhalte, die Inhalte des theologischen Wissens, sollten als arkanes Wissen dem Volk nicht zugänglich sein. Cordano spricht von Religion, nicht von Theologie, Religion wird aus den Wissenschaften ausgelagert. Innerhalb der Politik wird ein Raum der Religion ausgegrenzt, wissenschaftliches Wissen, besitzt keinen normativen, handlungsleitenden Wert, der allein der Religion zukommt. Es besteht eine enge Verschränkung von Politik und Religion, Stadt und Staat sind natürlich und bedienen sich aus natürlichen Gründen der Religion.

Eine Publikation der Vorträge ist in der Reihe „Beiträge zu den Historischen Kulturwissenschaften“ des HKFZ Mainz-Trier geplant.